Eine Umfrage im Auftrag des Branchenverbands Aussenwerbung Schweiz zeigt: Ein signifikanter Teil der Bevölkerung will keine Aussenwerbung. Doch es bestehen grosse Unterschiede zwischen der Deutschschweiz und der Romandie. Ein Erklärungsversuch.
Der Branchenverband Aussenwerbung Schweiz hat kürzlich die Resultate einer Umfrage veröffentlicht, die im Januar 2022 durchgeführt wurde. Das Marktforschungsinstitut LINK fragte im Auftrag des Verbandes ab, wie sympathisch (schweizweit 72%) oder störend (18%) Aussenwerbung wahrgenommen wird, ob Plakatwerbung für KMU akzeptiert ist (Ja) und wie viele Menschen ein Verbot von Plakatwerbung befürworten (Romandie: 45%; Deutschschweiz 27%). Gerade, weil in der Tendenz bei solchen Auftragsumfragen die erwünschten Antworten der Auftraggeberin zurückkommen, sind dies spannende Resultate.
Aussenwerbung Schweiz (AWS) ist der Interessenverband der Aussenwerbeindustrie. Im reinen Männervorstand sitzen neben APG-SGA CEO Markus Ehrle (Präsident) und Christoph Marty, dem CEO von Clear Channel Schweiz (Vizepräsident), zwei weitere Vertreter dieser beiden grössten Unternehmen in der Aussenwerbung sowie der Geschäftsleiter von Aktiv-Werbung, einem kleinen Unternehmen, das sich auf Werbung entlang von Strassen spezialisiert hat. Zu dem Mitgliedern gehören weitere Unternehmen der Aussenwerbung, so die Zürcher Star Plakat, die Genfer Neo Advertising oder Swiss Poster Research, die an der gleichen Adresse domiziliert ist wie APG-SGA und AWS.
Wie alle Umfragen dieser Art, hat auch diese Umfrage lediglich die Befindlichkeiten der Bevölkerung abgerufen, ohne vorher eine solide Informationsbasis bei den Befragten zu schaffen. Das hat einen bestimmten Wert für die Planung einer Informationskampagne, zeigt aber gerade in einem schlecht reflektierten Bereich wie der Aussenwerbung nicht auf, was die Bevölkerung denken würde, wenn sie über alle Fakten verfügte und darauf aufbauend Zeit zur Meinungsbildung hätte.
«Verschiedene Gruppierungen und Komitees wollen Plakatwerbung in Städten und Gemeinden verbieten. Was halten Sie davon?»
Die für die IG Plakat | Raum | Gesellschaft spannendste Frage war die Frage nach den Werbeverboten. Die Frage lautete: «Verschiedene Gruppierungen und Komitees wollen Plakatwerbung in Städten und Gemeinden verbieten. Was halten Sie davon?» In der Deutschschweiz lauteten die Antworten 27% «finde ich gut» vs. 63% «finde ich nicht gut». In der Romandie war das Verhältnis hauchdünne 45% Befürwortung zu 49% Ablehnung. Wer diese «Gruppierungen und Komitees», konnte oder wollte APGA-SGA CEO Markus Ehrle auf Anfrage der IG PRG nicht beantworten
Es ist unbestritten, dass in der Deutschschweiz der Ruf nach neuen Verboten, egal welcher Art, erst einmal einen Abwehrreflex auslöst, weshalb Bürgerliche die ganze Zeit vor Verboten warnen. Die kürzlich entschiedene Abstimmung zum Verbot von Tabakwerbung ist hier eine Ausnahme, die sich aber einreiht in die internationalen Trends zur Einschränkungen eines nachweislich gesundheitsschädlichen Produkts mit hohen Kosten für die Gesellschaft und die Betroffenen. Für eine reine Meinungsumfrage ohne Informationsbasis, gekoppelt mit dem Reizwort «Verbot» (anstatt der positiv konnotierten «Selbstbestimmung»), liegt die 27% Befürwortung von Werbeverboten in der Deutschschweiz leicht über der Einschätzung der IG PRG.
Der Einfluss Frankreichs
Dass ganze 45% der Bevölkerung in der Romandie Werbeverbote befürworten, und nur wenig mehr sie ablehnen, ist allerdings eine Überraschung. Auf Anfrage der IG PRG hat CEO Markus Ehrle keine Interpretation dieser regionalen Diskrepanz geliefert. Es deckt sich aber mit dem weniger konservativ-bürgerlichen Abstimmungsverhalten der Romandie. Wir denken zudem, dass die Antworten den französischen Einfluss zeigen, wo werbe- und kapitalismuskritische Stimmen schon lange prominenter waren als in den deutschsprachigen Ländern. Man denke etwa an den Roman Neununddreißig neunzig (frz. 99 Francs) des Ex-Werbers Frédéric Beigbeder, der ein vernichtendes Urteil über die Werbeindustrie fällt, oder an Organisationen wie die globalisierungskritische Attac, die konsumkritische Casseurs de pub (in Anlehnung ans kanadische Adbusters) oder die Anarchist:innen rund um Tiqqun und das Comité invisible. Grenoble, keine 150km von der Schweizer Grenze entfernt, war vor ein paar Jahren eine der wenigen europäischen Städte, die den öffentlichen Raum – mit grossen Zuspruch – von Aussenwerbung befreit hat. Jean (geboren: Hans) Ziegler, der prominenteste und wortgewaltigste Kapitalismuskritiker der Schweiz, ist stark vom französischen Kommunismus und Existentialismus geprägt und wohnt heute in der Nähe von Genf. Aber auch auf Ebene der Strasse läuft mehr in der Romandie als in der Deutschschweiz: Eine äusserst sehenswerte Sendung des RTS vom letzten Oktober (Kurzfassung auf SRF) thematisiert die Zerstörung von Werbeflächen durch Aktivist:innen in Lausanne und das positive Beispiel der traditionell FDP-dominierten Gemeinde Le Mont-sur-Lausanne, die Aussenwerbung verbannt hat.
Möglicherweise ist ein Teil dieser Konsum- und Kapitalismuskritik auch die Reaktion darauf, dass Frankreich das Heimatland des Weltmarktführers in der Aussenwerbung (und 30% Aktionärs an APG-SGA) JCDecaux ist. Das Unternehmen hat seinen Sitz in Neuilly-sur-Seine, dem Vorort von Paris, der auch den korrupten Ex-Präsidenten der Republik und Freund der Decaux-Familie, Nicolas Sarkozy hervorgebracht hat. Der Hauptsitz der Schweizer Nummer 1 wiederum, die zu über 55% von französischen und belgischen Unternehmen kontrollierte APG-SGA, hat ihren Hauptsitz in Genf.
Mit anderen Worten: Die IG PRG hat den Eindruck, dass sich die Westschweizer Bevölkerung stärker mit Aussenwerbung, Kapitalismus- und Konsumkritik auseinandergesetzt hat, was ein Erklärungsansatz dafür liefert, dass fast die Hälfte der Befragten ein Werbeverbot befürwortet.
Studien zur sachlichen Meinungsbildung fehlen
Was sind die Schlüsse daraus? Obwohl Aussenwerbung fast in der ganzen Welt präsent ist – selbst in Nordkorea – und die Aufmerksamkeit der Bürgerinnen, Passanten und Konsumierenden ohne deren aktive Zustimmung monetarisiert, und obwohl vom ganzen Geld, das damit verdient wird, nur ein kleiner Prozentsatz an die Gemeinden zurückfliesst, existieren bis heute keine umfassenden gesellschaftspolitischen Analysen, Studien oder Monographien zum Thema. Der grösste Teil der Plakatforschung, -umfragen und -studien wird von der Industrie selber betrieben oder in Auftrag gegeben. Diese Studien haben einen sehr engen Fokus, der alle ernsthaften Fragen zur demokratischen Mitbestimmung über den öffentlichen Raum ausblendet. Die Resultate dienen deshalb auch der Verkaufsförderung und der Propaganda für das eigene Produkt. Sie sind wenig hilfreich, um die Rolle von Aussenwerbung in der Gesellschaft zu diskutieren. Viel von der Forschung der Industrie ist zudem nicht über Open Access zugänglich, sondern nur gegen Entgelt.
Die IG PRG regt deshalb an, dass die Städte und Gemeinden wissenschaftliche, öffentlich einsehbare Studien finanzieren, die dem wahren politischen, gesellschaftlichen, demokratischen und wirtschaftlichen Wert der Aussenwerbung auf den Grund gehen. Gerüstet mit allen relevanten Fakten kann dann in der Bevölkerung, den Parlamenten, den Exekutiven und den Medien eine sachliche Diskussion darüber stattfinden, wie viel Aussenwerbung wir wollen, welche Aussenwerbung wir wollen, und nach dieser Debatte kann der demokratisch legitimierte Souverän zur Abstimmung schreiten.