Früher war die Werbung noch toll, heute ist alles ein Einheitsbrei. Der Grund? Amazon, Apple, Meta, Microsoft und Google. Dies die These eines kürzlich erschienenen SonntagsZeitung-Artikels, in der die Werbelobby unwidersprochen zur Sprache kommt. Was vertuscht wird: Das ist Teil der orchestrierten Propaganda, die die Plakatgesellschaften und ihre Handlanger derzeit verbreiten
In der kürzlich veröffentlichten Medienmitteilung und Antwort des Zürcher Stadtrats auf die AL-Motion zur Reduktion von Aussenwerbung tauchen unbelegte Behauptungen aus dem Drehbuch von AWS Aussenwerbung Schweiz auf, der Lobbyorganisation des Plakatduopols APG/Goldbach. Eine davon: «Es würde einen massiven und einseitigen regulativen Eingriff in die lokale Wirtschaft bedeuten – mit absehbaren Verschiebungen in andere Werbekanäle. Diese Werbemärkte sind grösstenteils von internationalen Konzernen geprägt.» Vor zwei Jahren wurde dies im Gemeinderat noch von der GLP und SVP behauptet, inzwischen verunglimpft der Stadtrat die Unternehmen, denen er den roten Teppich ausgerollt hat und die in der Stadt Zürich schätzungsweise fünfzigmal mehr Menschen beschäftigen als die Plakatgesellschaften.
Ob der Stadtrat das auch glaubt, ist nicht klar. Klar ist aber: Die Werbebranche versucht gerade, ein neues Narrativ zu etablieren: Schuld an der Misere der rechtschaffenen und total beliebten Schweizer Werber ist nicht etwa ihre Unfähigkeit, Antworten auf die gesellschaftlichen, ökologischen und aufmerksamkeitsökonomischen Veränderungen seit den 1990er-Jahren zu formulieren und ihre Branche dahingehend zu verändern. Nein, Schuld ist die Online-Werbung der bösen ausländischen Silicon-Valley-Konzerne!
Scheinargument #3 von 9
Diese Behauptung ist eines der Puzzleteile zur Unterminierung demokratisch legitimierter Kritik an der Privatisierung des öffentlichen Raums durch die Plakatgesellschaften. Letzte Woche hat AWS Aussenwerbung Schweiz eine neue Website aufgeschaltet, in der die Silicon-Valley-Werbung das dritte von neun Scheinargumenten zur Wahrung ihrer Profitinteressen ist (wir mögen die Website nicht verlinken, um dem Stuss nicht noch mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen).
In der SonntagsZeitung hat Wirtschaftsredaktorin Edith Hollenstein nachgedoppelt. Der «Grosse Artikel zur Zukunft der Werbebranche» (Persönlich) lässt Matthias Ackeret vom Branchenmagazin Persönlich und die Lobbyorganisation Kommunikation Schweiz KS/CS ausführlich zu Wort kommen, ohne dass ihre Behauptungen hinterfragt oder durch relevante empirische Fakten belegt würden.
Was die SonntagsZeitung zu erwähnen vergisst, ist, dass sie zum gleichen Gemischtwarenkonzern gehört wie die Nummer 2 im Aussenwerbungsmarkt, Goldbach Neo OOH (keine einzige Tamedia-Zeitung hat über die CHF-90-Millionen-Akquisition von Clear Channel berichtet). Was auch nicht direkt in der SonntagsZeitung steht, ist, dass Edith Hollenstein früher Redaktionsleiterin beim Persönlich war und deshalb ganz einfach ihre guten Kolleg:innen von damals unwidersprochen zu Wort kommen lässt.
Übrigens: Nicht nur Tamedia und Persönlich arbeiten mit den Werbeplattformen von Google, Microsoft, Amazon und weiteren zusammen. Selbst Goldbach Neo OOH und APG|SGA haben auf ihrer Website Tracker und setzen Cookies der grossen Techkonzerne. Vielleicht sollten sie vor der eigenen Türe kehren, bevor sie den Mund zu voll nehmen.
Falls noch etwas unklar ist…
Um auf die Behauptung einzugehen: Gibt es eine inhärente Beziehung zwischen weniger Aussenwerbung und mehr Online-Werbung, wie es der Stadtrat postuliert? Entschieden nein. Werden Werbegelder in den Online-Bereich abfliessen, wenn weniger Plakatflächen zur Verfügung stehen? Wir wissen es nicht.
Man muss nicht Fan der grossen Techunternehmen sein. Aber angesichts folgender Tatsachen ist es unredlich, dass die Werbeindustrie und der Stadtrat über eine vermutete Verschiebung hin zu Online-Werbung jammern, sollte dem Auftrag der demokratisch legitimierten Legislative nach einer Reduktion von Aussenwerbung entsprochen werden:
- Der kometenhafte Aufstieg der Online-Werbung hat zu einem massiven Einbruch der Werbeeinnahmen bei Medien mit journalistischen Inhalten geführt, nicht aber bei der Aussenwerbung. Weder der Stadtrat noch AWS Aussenwerbung Schweiz haben je etwas dafür getan, um den Abfluss von Werbeeinnahmen von den redaktionellen Medien zu den Techkonzernen zu bremsen.
- Der Zürcher Stadtrat hat den Techkonzernen, allen voran Google und Amazon Web Services, den roten Teppich ausgerollt, ohne Rücksicht auf Verluste, wie steigende Preise und Wohnungsnot.
- Die zahlreichen Lobby- und Branchenorganisationen der Werbeindustrie fabulieren stets von Selbstregulierung. Sie hätten es in der Hand, die Werbeauftraggebenden dahingehend zu beeinflussen, dass sie nicht in die Silicon-Valley-Werbeplattformen investieren. Tun sie aber offenbar nicht.
- Online-Werbung ist im Verdacht, viel zu hohe Reichweiten zu verkaufen, die von Menschen kaum überprüft werden können. Auch die Aussenwerbung verkauft viel zu hohe Reichweiten und vertuscht dies geschickt. Das kostet Werbekund:innen in der Schweiz ungezählte Millionen. Darüber will aber niemand in der Werbeindustrie reden. Es ist offenbar wichtiger, die Aussenwerbung zu schützen als die Werbekund:innen.
- Die Aussenwerbungsindustrie ist genauso scharf auf unsere persönlichen Daten wie die US-amerikanischen Techkonzerne. Siehe das gescheiterte Unternehmen Beem oder Aymo von APG|SGA. Und selbst die Plakatgesellschaften installieren auf ihren Websites Tracker der Techkonzerne.
- Bis vor Kurzem waren die beiden früheren Marktführer APG|SGA und Clear Channel grossmehrheitlich in der Hand von ausländischen Aktionär:innen, was bei den Techkonzernen beklagt wird. Goldbach Neo OOH (ehem. Clear Channel) hat den Sitz im Steuerparadies Hünenberg ZG.
- Die Techkonzerne beschäftigen sehr viel mehr Menschen in Zürich (gegen 7500) als die hiesigen Plakatgesellschaften (150). Es ist plausibel, dass erstere alleine deshalb eine deutlich höhere direkte und indirekte Wertschöpfung für den Standort Zürich erzielen. Nur schon Amazon Web Services rechnet durch ihren Ausbau des Hubs Zürich mit einer Zunahme des BIP in der Region Zürich von über CHF 16 Milliarden bis 2035.
- Ob die Techkonzerne mehr oder weniger Steuern in Zürich bezahlen, wissen wir nicht. Die Stadt Zürich mit fast 450 000 Einwohner:innen erhält aber von APG|SGA gerade einmal so viele Steuern, wie deren CEO Markus Ehrle alleine verdient (und natürlich nicht in der Stadt Zürich versteuert).